4.1.1 Allgemeines und Anordnung der Aussteifungselemente

Die räumliche Stabilität und die Standsicherheit gemauerter Bauwerke und Bauteile sind durch aussteifende Wände und Decken oder durch andere Maßnahmen (z. B. Rahmen) zu gewährleisten. Einwirkungen infolge Wind sind nach DIN EN 1991-1-4/NA zu berücksichtigen. Hinsichtlich des einwirkenden Erddrucks ist DIN EN 1997-1/NA zu beachten. Die im Hochbau wirkenden Nutzlasten sind in DIN EN 1991-1-1/NA geregelt.

Die Gesamtstabilität eines Bauwerks ist im Allgemeinen in Richtung der Hauptachsen des Grundrisses zu untersuchen, wobei bei rechteckigen Grundrissen die Windlasten getrennt in beiden Richtungen senkrecht zu den Außenwänden angesetzt werden dürfen. Das Gebäude muss in beiden Richtungen durch eine ausreichende Anzahl von Wänden ausgesteift sein, um Windlasten sowie Horizontallasten aus der Lotabweichung des Gebäudes und infolge Erddrucks aufzunehmen. Die Wände werden hierbei in ihrer Ebene als Scheibe beansprucht.

Zur Einleitung der Horizontallasten in die aussteifenden Wände sind ausreichend steife Decken erforderlich. Da Geschossdecken des Wohnungsbaus heute hauptsächlich in Ortbeton oder mit Betonfertigteilen hergestellt werden, die durch Ringbalken, Ringanker und Fugenbewehrung zu einer Scheibe zusammengefasst sind, ist diese Voraussetzung im Regelfall erfüllt. Bei entsprechender Ausbildung können auch Holzbalkendecken als aussteifende Scheiben angesehen werden. Hierbei muss jedoch sichergestellt sein, dass die Wände in Höhe der Decken seitlich gehalten sind und die Scheibenwirkung der Holzbalkendecke durch die Wände nicht unterbrochen wird. Der Anschluss der Holzbalkendecke an die Mauerwerkswand muss die auftretenden Kräfte aufnehmen können. Bei Gebäuden mit Geschoßdecken, die in ihrer Ebene keine Horizontallasten übertragen können, muss gewährleistet sein, dass in beiden Richtungen eine ausreichende Anzahl von gleichmäßig im Gebäudegrundriss verteilten Wänden vorhanden ist. Zudem müssen dann Ringbalken die Horizontallasten auf die aussteifenden Wände weiterleiten können.

Mauerwerksbauten üblicher Abmessungen besitzen im Allgemeinen eine Vielzahl aussteifender Wandscheiben. Bei einer kraftschlüssigen Verbindung der Wände mit einer schubsteifen Deckenscheibe bildet sich gegenüber einer horizontalen Einwirkung ein formstabiles System. Ist die Scheibenwirkung der Geschossdecke nicht gewährleistet (z.B. bei Holzbalkendecken oder nicht verbundenen Fertigteildecken), verschieben sich die Wandscheiben infolge der horizontalen Einwirkungen. Zur Sicherstellung der erforderlichen räumlichen Steifigkeit müssen dann Ringanker bzw. -balken vorgesehen werden.

Nach DIN EN 1996/NA ist grundsätzlich nachzuweisen, dass alle horizontalen Einwirkungen sicher in den Baugrund weitergeleitet werden. Allerdings kann auf einen rechnerischen Nachweis verzichtet werden, wenn die Geschossdecken als steife Scheiben ausgebildet sind bzw. statisch nachgewiesene, ausreichend steife Ringbalken vorliegen und wenn in Längs- und Querrichtung des Gebäudes eine offensichtlich ausreichende Anzahl von genügend langen Wänden vorhanden ist, die ohne größere Schwächungen und Versprünge bis auf die Fundamente geführt werden. Ist bei einem Bauwerk nicht von vornherein erkennbar, dass Steifigkeit und Stabilität gesichert sind, ist ein rechnerischer Nachweis der Gesamtaussteifung erforderlich. Die verantwortungsvolle Entscheidung hinsichtlich des Verzichts auf einen rechnerischen Nachweis erfolgt durch den Tragwerksplaner.

Die maßgebenden horizontalen Einwirkungen auf Mauerwerksgebäude sind:

  • Winddruck und Windsog
  • Imperfektionen (z. B. ungewollte Schiefstellung)
  • Erddruck
  • Seismizität/Erdbeben (je nach geographischer Lage)

Für die Aussteifung eines Gebäudes sind stets mindestens drei Wandscheiben sowie eine schubsteife Deckenscheibe (oder ersatzweise ein statisch nachgewiesener Ringbalken) erforderlich. Die Aussteifungswände dürfen nicht alle parallel angeordnet sein und ihre Wirkungslinien dürfen sich nicht in einem Punkt schneiden. Lage und Richtung der Wandscheiben sollten zudem so gewählt werden, dass die Verdrehung des Gebäudes um seine vertikale Achse gering bleibt. Ferner sollten Wandscheiben so angeordnet sein, dass Zwangbeanspruchungen der Geschossdecken vermieden werden. Bild 4‑1 zeigt einige Beispiele für günstige und ungünstige Anordnungen von Aussteifungsscheiben. Üblicherweise nehmen dabei Wandscheiben nur Lasten in Richtung ihrer starken Achse auf, da die Biegesteifigkeit um die schwache Achse bei der Bemessung vernachlässigt wird. Auch wird angenommen, dass Stützen und Pfeiler aufgrund ihrer geringen Biegesteifigkeit ebenfalls nicht zur Aussteifung beitragen.

Werden mehrere Wandscheiben schubfest miteinander verbunden (z.B. durch Aufmauerung im Verband), so entstehen L- oder U-förmige Aussteifungselemente, die gegenüber den Einzelwänden eine höhere Steifigkeit besitzen. Zusammengesetzte torsionssteife Querschnitte aus Wänden bezeichnet man als Aussteifungskerne. Der rechnerische Nachweis derartiger Aussteifungselemente muss nach den allgemeinen Bemessungsregeln gemäß DIN EN 1996-1-1/NA, 5.3.3 erfolgen, da im vereinfachten Berechnungsverfahren die hinreichende Gebäudeaussteifung mit den o.g. Kriterien nur abgeschätzt werden kann.