4.2.2 Schnittgrößen in Aussteifungsscheiben infolge horizontaler Einwirkungen

Die im üblichen Hochbau am häufigsten auftretende horizontale Einwirkung ist eine Windbeanspruchung. Diese setzt sich zusammen aus dem Winddruck und dem Windsog (s. Bild 4-8). Diese Lasten greifen an der Fassade des Gebäudes an und müssen von dort über die aussteifenden Deckenscheiben in die Aussteifungselemente abgeleitet werden. Die gesamte Windlast wird dabei auf die einzelnen Deckenscheiben in Abhängigkeit der jeweiligen Einflussfläche verteilt (s. Bild 4-9). Hierfür dürfen die Fassadenelemente im Allgemeinen als Einfeldträger abgebildet werden, sodass sich für die Einflussfläche die Summe aus der halben Geschosshöhe oberhalb und der halben Geschosshöhe unterhalb der betrachteten Deckenscheibe multipliziert mit der Gebäudebreite ergibt (vgl. Gleichung (4.12)). Die Windkräfte wirken somit immer geschossweise auf die aussteifenden Wandscheiben (s. Bild 4-10).

Gleichung 4.12

Während im vereinfachten Berechnungsverfahren nach DIN EN 1996-3/NA Windeinwirkungen direkt im Traglastfaktor integriert sind, müssen sie bei Verwendung des allgemeinen Berechnungsverfahrens berücksichtigt werden. Dabei sind die entstehenden Biegemomente mit den Biegemomenten aus Eigen- und Verkehrslasten zu überlagern. In Wandmitte ergibt sich eine zusätzliche planmäßige Exzentrizität der Normalkraft, die im Knicksicherheitsnachweis (s. Kap. 7.4) zu berücksichtigen ist.

Die Ermittlung der Schnittgrößen in Aussteifungsscheiben darf nach DIN EN 1996-1-1/NA mit Hilfe zweier verschiedener Modelle erfolgen:

  • Ermittlung der Schnittgrößen anhand des Kragarmmodells, bei dem die Einspannebene in der Regel in Höhe der Kellerdecke angenommen wird
  • Ermittlung der Schnittgrößen unter Berücksichtigung von Rückstellkräften und Einspannwirkungen der Wandscheiben in die anschließenden Decken

Das Kragarmmodell modelliert auf der sicheren Seite liegend die horizontal aussteifenden Wandscheiben als Kragarme über die gesamte Gebäudehöhe bis zur Einspannebene (siehe DIN EN 1996-1-1/NA, NCI zu 6.1.2.2). Die Einspannung wird dabei in der Regel in Höhe der Kellerdecke angenommen. Die Exzentrizität der einwirkenden Normalkraft an der Einspannstelle berechnet sich aus dem Quotienten des Bemessungswertes des einwirkenden Momentes MEwd um die starke Achse und dem maßgebenden Bemessungswert der einwirkenden Normalkraft NEd. Im Regelfall ist für den Nachweis der Minimalwert der einwirkenden Normalkraft (NEd = 1,0 · NGk) bemessungsrelevant.

Das Kragarmmodell ist konservativ und führt oftmals zu unwirtschaftlichen Ergebnissen (s. Bild 4-12). Nach DIN EN 1996-1-1/NA, Anhang K können die Schnittgrößen einer Aussteifungsscheibe daher jetzt alternativ auch nach einem neuen Modell bestimmt werden.

Bei der Bestimmung der Tragfähigkeit einer Mauerwerksscheibe nach DIN EN 1996-1-1/NA, Anhang K.2 (1) kann für die Ermittlung der einwirkenden Schnittkräfte die günstig wirkende Einspannung der Wandscheibe in die anschließenden Decken berücksichtigt werden. Die daraus resultierenden rückdrehenden Momente an den Enden der Scheibe dürfen entsprechend angesetzt und die Wand geschoßweise betrachtet werden. Die Erfassung der Einspannwirkung ist über die Schubschlankheit λv möglich, welche eine „ideelle“ Schlankheit von horizontal (querkraftbeanspruchten) Wandscheiben um die starke Achse darstellt und auf dem Wandgeometrieverhältnis h/l eines einzelnen Stockwerks aufbaut. Sie wird neben dem Verhältnis von Höhe zu Länge der Wandscheibe h/l zusätzlich vom Beiwert ψ beeinflusst (Bild 4-11).

 

 

 

 

Gleichung 4.13

mit

ψ    Beiwert zur Beschreibung der Momentenverteilung nach Gleichung (4.15), Gleichung (4.16) bzw. (4.17)
h    Wandscheibenhöhe
h‘   Höhe der Ersatzwandscheibe
l     Wandscheibenlänge

Für die Ermittlung des Beiwertes ψ wird ein Ausschnitt der nachzuweisenden Aussteifungswand mit der Höhe h und der Länge l im bemessungsrelevanten Geschoss betrachtet. Der Faktor ψ berücksichtigt die Lage des Momentennullpunktes, welcher sich je nach Exzentrizität des Lastangriffs am Wandkopf (ψ = 1), innerhalb (ψ < 1) oder oberhalb (ψ > 1) der betrachteten Wandscheibe einstellt. Die Schubschlankheit hängt damit sowohl von der Bemessungssituation als auch von der Einwirkungskombination ab. Die Höhe h‘ bezeichnet die sich ergebende Höhe der Ersatzwandscheibe. In Bild 4-11 wird deutlich, dass eine Wandscheibe mit beliebiger Lastausmitte am Wandkopf (links) durch den Beiwert ψ in eine normierte Wandscheibe der Höhe h’ überführt werden kann, die am Wandkopf zentrisch belastet ist (eo = 0).

Bei der Ermittlung der Lastausmitte am Wandkopf sind in der Regel die Last und deren Ausmitte aus der darüber liegenden Wandscheibe (Noben; eoben) sowie die Last und die entsprechende Ausmitte aus der Deckenscheibe (NDe; eDe) zu berücksichtigen. Die resultierende Ausmitte eo ergibt sich dann beispielsweise vereinfacht zu:

Gleichung 4.14

mit

Noben   Normalkräfte aus der über der Deckenebene angreifenden Normalkraft
eoben    Exzentrizität der Normalkräfte aus der über der Deckenebene angreifenden Normalkraft
NDe      einwirkende Normalkraft der Decke
eDe       Exzentrizität der Normalkraft der Decke
No        Summe der Normalkräfte am Wandkopf

Am Wandkopf greift die Normalkraft No mit der Exzentrizität eo sowie eine Horizontallast V an. Damit lässt sich der Beiwert ψ nach Gleichung (4.15) bestimmen. Hierbei ist Noben die Summe der Normalkräfte am Wandkopf und eoben die zugehörige Exzentrizität aus der über der Deckenebene angreifenden Normalkraft (Bild 4-11). NDe und eDe beschreiben die Normalkraft und die Exzentrizität der Deckenlasten, Nw das Eigengewicht der Wand im betrachteten Geschoß.

 

 

 

 

Gleichung 4.15

mit

No   Summe der Normalkräfte am Wandkopf
eo   Exzentrizität der Last am Wandkopf nach Gleichung (4.14)
V     Horizontallast
h     Höhe der Wandscheibe

Zu beachten ist, dass bei der Berechnung von ψ mit Gleichung (4.15) das Vorzeichen von e0 zu berücksichtigen ist. Die Begrenzung auf ψ ≥ 0,5 gibt die praxisüblichen Verhältnisse wieder und setzt Versagen am Wandfuß voraus.

Es ist offensichtlich, dass der Tragwerksplaner durch Anwendung dieses Ansatzes die Schubschlankheit λv mit einem geeigneten Wert für die Exzentrizität eDe der vertikalen Last der Decke beeinflussen kann. Mit der Annahme einer über die Gebäudehöhe konstant wirkenden Horizontallast kann gezeigt werden, dass die Ergebnisse des Kragarmmodells erhalten bleiben, wenn ψ = H/(2 · h) angesetzt wird, wobei H die Gebäudehöhe bezeichnet. Bei identischer Stockwerkshöhe h ist die Höhe der betrachteten Ersatzscheibe somit gleich der halben Bauwerkshöhe.

Nach DIN EN 1996-1-1/NA kann der Faktor ψ aus den Exzentrizitäten an Wandkopf und Wandfuß unter Vernachlässigung des Eigengewichts der Wand (Nw ≈ 0) äquivalent zu Gleichung (4.15) nach den Gleichungen (4.16) und (4.17) bestimmt werden.

 

 

 

 

Gleichung 4.16

Gleichung 4.17

mit

eo   Exzentrizität am Wandscheibenkopf nach Gleichung (4.14)
eu   Exzentrizität am Wandscheibenfuß nach Gleichung (4.18)

Die Lastexzentrizität eu am Wandfuß ergibt sich aus einer Gleichgewichtsbetrachtung:

Gleichung 4.18

mit

No   Summe der Normalkräfte am Wandkopf
eo    Exzentrizität der Last am Wandkopf nach Gleichung (4.14)
V     Horizontallast
h     Höhe der Wandscheibe
Nw   Eigengewicht der Wand
ψ     Beiwert zur Beschreibung der Momentenverteilung nach den Gleichungen (4.15), (4.16) und (4.17)
Nu   Normalkraft am Wandfuß

Wenn die Decke oder andere Bauteile in der Lage sind, ein rückdrehendes Moment No · eo zu erzeugen, können die infolge der Biegebeanspruchung aus den horizontalen Einwirkungen exzentrisch anzusetzenden vertikalen Einwirkungen in jedem Geschoss wieder zentriert werden. Dies führt nicht nur zu einer deutlichen Verkleinerung des bemessungsrelevanten Biegemoments am Fuß der Aussteifungswand (Bild 4-12), sondern vergrößert gleichzeitig die für den Nachweis der Querkrafttragfähigkeit maßgebende überdrückte Wandlänge.

Des Weiteren ermöglicht dieses Berechnungsverfahren die Berücksichtigung exzentrisch angreifender Deckenlasten (eDe > 0), wie es z. B. bei innenliegenden Aussteifungsscheiben häufig vorkommt (Bild 4-11). Die zugehörigen ungünstig wirkenden Biegemomente werden über die Schubschlankheit λv abgebildet. Dabei ist zu beachten, dass am Wandkopf exzentrisch angreifende Auflagerkräfte in der jeweils maßgebenden Einwirkungskombination unterschiedliche Schubschlankheiten zur Folge haben.

Für die Ermittlung des Beiwertes ψ sind die Lastausmitten mit dem richtigen Vorzeichen einzusetzen (positiv in Richtung und Orientierung der angreifenden Horizontallast V am Wandkopf). Das Modell kann auch ungünstig wirkende Auflagerkräfte (z. B. aus exzentrisch aufliegenden Unterzügen mit eo > 0) korrekt erfassen.

Zu beachten ist, dass in den verschiedenen Bemessungssituationen aufgrund von abweichenden Kombinations- oder Teilsicherheitsbeiwerten unterschiedliche Ausmitten am Wandkopf und damit auch am Wandfuß der Wandscheibe resultieren können. Wird der Beiwert ψ nicht im Vorhinein festgelegt – zum Beispiel ψ = 0,5 bei Annahme des Momentennullpunktes stets in Wandhöhenmitte oder ψ = 1,0 bei Annahme einer stets zentrischen Lasteinleitung am Wandkopf (eo = 0) – so können sich für jede Bemessungssituation unterschiedliche Beiwerte ψ und somit unterschiedliche Schubschlankheiten λv ergeben.